Hilfe, statt Tabuthema
Psychische Erkrankungen sind häufig immer noch ein Tabuthema, doch es ist enorm wichtig, dass Betroffene umfassende therapeutische Hilfe bekommen. Was aber bedeutet es wirklich, wenn Kinder und Jugendliche psychisch erkranken? Die Fallbeispiele geben Einblick in das Leid der Familien und die Erfolge, die durch die Behandlung in der SLK-Kinderpsychosomatik erzielt werden konnten.
Fallbeispiele
„Mein Mann und ich sind am Ende“, so beginnt das Aufnahmegespräch von Theo und seiner Mutter. Obwohl Theo von Anfang an ein Wunschkind gewesen sei, habe er seit seiner Geburt keine Nacht durchgeschlafen, schreie oft ohne Grund über Stunden und auch das Füttern stelle die Familie vor große Schwierigkeiten. Alle sozialen Kontakte der Eltern seien durch den Stress unmöglich geworden, kein Ratschlag helfe. Theo und seine Mutter werden gemeinsam auf der Station behandelt. Nach einer ausführlichen Diagnostik, ob der Symptomatik andere Ursachen zu Grunde liegen, wird die Familie über die Diagnose Regulationsstörung im Säuglingsalter aufgeklärt, die Schuldfrage der Mutter wird mit einem klaren Nein beantwortet. Im multiprofessionellen Team aus ärztlichen und psychologischen Therapeuten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und der Pflege wird Theos Verhalten beobachtet und erste Ideen entwickelt, die ihm in einen normalen Tagesrhythmus verhelfen können. Die Eltern und Theo üben den neuen Tagesablauf, bekommen in Essens -und Interaktionssituationen, unter anderem auch videogestützt, Hilfe bei der Reduzierung der Symptomatik. Nach drei Wochen geht es in die ambulante Weiterbehandlung. „Theo ist immer noch eine Herausforderung für uns, trotzdem haben wir jetzt endlich einen Alltag wie andere Familien mit kleinen Säuglingen.“
Theo, 10 Monate, Regulationsstörung
„Natürlich habe ich viele Freunde“, sagt Steven trotzig, während sein Vater ungläubig den Kopf schüttelt. Steven kann nicht mehr in die Schule gehen, die ihn wegen permanenter Störung und Ausrastern im Unterricht und in den Pausen aktuell vom Unterricht ausgeschlossen hat. Im Fußballverein fallen merkwürdige Bewegungen und lautes Schreien von Schimpfwörtern auf, keiner möchte mehr mit Steven spielen, der Trainer hält ihn für untragbar. Nach einer Woche stationärer Diagnostik und Verhaltensbeobachtung steht die Diagnose schweres ADHS mit Störung des Sozialverhaltens fest, die motorischen und vokalen Tics kommen dazu und erschweren die Symptomatik. Steven bleibt sechs Wochen zur Behandlung auf der Station, um besser zu verstehen, warum er diese Symptomatik hat und was er tun kann, um besser damit zurecht zu kommen. Mit einer Kombination aus Verhaltenstherapie, familienzentrierten Angeboten und Medikamenten wird Steven unterstützt, die Eltern sind fast täglich zu Besuch. Sie erhalten ebenfalls Beratung und praktische Anleitung. Ihre Angst, die Medikamente könnten ihrem Sohn Schaden zufügen löst sich bald auf, als Steven wieder die Klinikschule besuchen kann und von dort positive Rückmeldungen erhält. Im Schulgespräch mit der Klinikschule und der Heimatschule atmet Stevens Vater auf. Sein Sohn wird nach Abschluss der stationären Behandlung wieder in seine alte Klasse zurückgehen können und dort hoffentlich endlich Freunde finden.
Steven, 8 Jahre, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und komplexe Ticstörung
„Eine halbe Karotte“, antwortet Lea auf die Frage im Aufnahmegespräch, wie viel sie gestern über den Tag gegessen habe. Sie wirkt sehr traurig, kraftlos, nicht nur durch ihre 29 Kilo bei einer Körpergröße von 154 cm. Die alleinerziehende Mutter berichtet, seit zwei Jahren habe sich ihre Tochter total verändert, die vor der Pandemie ein fröhliches Mädchen mit vielen Freundinnen gewesen sei. Lea esse nicht mehr, habe jeden Spaß an Aktivitäten und sozialen Kontakten verloren und ziehe sich den ganzen Tag nur in ihr Zimmer zurück. Zuletzt habe sie das Essen fast komplett eingestellt und werde immer schwächer. Lea bleibt fast vier Monate auf der psychosomatischen Station. Lea benötigt anfangs eine Ernährung über Magensonde, da das normale Essen nur langsam gelingt. Schritt für Schritt unterstützt vom multiprofessionellen Team bekommt Lea wieder Freude am Leben und lernt ihre Gedanken rund um das Essen zu beherrschen. Ein verhaltenstherapeutischer Stufenplan, regelmäßige Physio- und Psychotherapie, ein Esstraining mit der Pflege und eine medikamentöse Behandlung für die Depression sind nötig. Im zweiten Teil der Behandlung, in dem Lea stabiler wird, geht es immer öfter um eine Belastungserprobung im Alltag zuhause, erst stundenweise, dann für mehrere Tage und um die Wiederaufnahme des Schulbesuchs, erst in der Klinikschule, dann in ihrer eigenen Schule. Das Heimweh ist immer da, auch wenn die Kontakte und Besuche der Mutter regelmäßig stattfinden. Die Therapie ist ausgesprochen anstrengend für die ganze Familie, doch Schritt für Schritt gibt es positive Veränderungen. Beim Anblick der Fotodokumentation vom Behandlungsbeginn kurz vor Entlassung schaut Lea die Therapeutin an: „Ich kann nicht glauben, dass ich mal so aussah!“
Lea, 13 Jahre, Essstörung und Depression
„Ich hasse meinen Diabetes!“ faucht Nesrin wütend. „Immer muss ich irgendwas.“ Seit ihrem 10. Lebensjahr muss sich Nesrin um ihre Blutzuckerwerte, das Essen und Spritzen kümmern und sie ist nicht die einzige in der Familie mit Problemen. Ein jüngerer Bruder ist geistig behindert, die Mutter hat vor vier Monaten die Diagnose Brustkrebs bekommen. Die Vorstellungen in der Diabetesambulanz zeigten bereits vor Aufnahme schlechte Blutzuckerwerte, zweimal kam es zu einer Notfallaufnahme wegen lebensbedrohlicher Blutzuckerentgleisungen in der Schule. In den letzten Wochen sei Nesrin nicht mehr in die Schule gegangen, weil sie morgens nicht mehr aufstehen wollte. Auf Station können Kinderärzte, Therapeuten und die Pflege eng zusammenarbeiten, um Nesrins Diabetes besser einzustellen und sie nochmals ausführlich zu schulen. Psychotherapeutische Gespräche, ein Schulbesuch der Klinikschule und die Musiktherapie sind wichtige Bausteine in Nesrins Therapieplan, die verstehen lernt, warum sich alles schwierig anfühlt und wie sie mit ihren Herausforderungen umgehen kann. Der Blick auf alle Bereiche in Nesrins Leben hilft, die vielen Probleme zu sortieren und Nesrin für den Alltag mit dem Diabetes, der familiären Belastung und den Aufgaben im Umfeld mit Schule und Erwachsenwerden stabiler und sicherer zu machen. Die familiäre Situation bleibt schwierig, in den Gesprächen mit den Eltern zusammen mit der Sozialberatung können trotzdem gemeinsam erste Schritte zur Entlastung der Familie gefunden werden. Bei Entlassung ist Nesrin sicher, so schnell wird der Diabetes nicht mehr entgleisen.
Nesrin, 16, Jahre, Diabetes und Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik